Kreuzlingen – Kunst, Philosophie und Fotografie haben immer etwas zu tun mit der Suche nach neuen Erkenntnissen und Blickwinkeln, dem Anregen von Diskursen und mit dem Willen, Grenzen zu sprengen. Was wäre, wenn all diese Bereiche zusammengeführt werden? Der Kunstraum Kreuzlingen und Tiefparterre tut genau dies. Die zwei Ausstellungen «Zellenleben» und «Rest or Stay» führen die Besucher an die ewig heisse Thematik Freiheit und Gefangenschaft heran. Heute Abend um 19.30 Uhr findet die Vernissage statt. Die Ausstellung ist bis 19. Mai für die Öffentlichkeit zugänglich.
Sechs scheinbar voneinander losgelöste Posten gehen beim näheren Betrachten eine Symbiose ein. Sie schlagen zwar alle einen anderen Weg, auf der Suche nach Klarheit ein, finden sich aber am Ende am selben Ort wieder. Während des Rundgangs und der Beschäftigung mit den einzelnen Kunstobjekten, erhält der Besucher mehr Klarheit über den Begriff Zellen. Das Wort ist negativ konnotiert und ruft heute noch beklemmende Gefühle hervor. Zellen sind ein grosses Thema in der Biologie, werden als Synonym für Strafvollzugsanstalten und im Sprachgebrauch als bildliche Erklärung für einengenden Wohnraum verwendet. Die folgenden Zeilen nehmen die einzelnen Künstler und deren Schaffen unter die Lupe.
Zellenleben
Irgendwo im multikulturellen Londoner East End fliesst ein nicht endend wollendes, blaues Samttuch unter einer vergitterten, geschlossenen Tür auf den Gehsteig hinaus. Der Strom des tiefen Blau verbindet das Verborgene mit dem Aussen. Die Hellraumprojektion der Künstlerin Judith Albert setzt sich mit Grenzen auseinander, die scheinbar alles beherrschen und überlagern.
Die vierteilige Werkgruppe von Barbara Ellmerer basiert auf einem Bild der Flux-Particle-Serie aus dem Jahr 2013. Mit mikroskopischem Blick zoomt sie Farbpartikel und Öl-Schichten maximal nahe heran und denkt diese in Überdimensionen neu. Die unsichtbaren «Sujets» nähern sich Zellorganellen, auch Kraftwerke der Zellen genannt, an.
«Es ist mir wahrlich eine Freude, dass wir Jso Maeder für die Ausstellung gewinnen konnten», sagt der strahlende Kurator und Philosoph Nils Röller. Auf einer weissen Säule steht eine halb durchsichtige Kiste. Die 24 Tafeln und Folien darin unterbieten in ihrer Abfolge das Prinzip einer indexikalischen Ordnung oder archivischer Kategorien. Wie bei einem Zettelkasten wird fragmentarisches Material unterschiedlicher Herkunft, darunter Zitate oder Inhalte aus Fremdquellen, zu einer fortlaufenden Montage koordiniert. Während bei den anderen Werken die Kunstinteressierten nur vorbeilaufen oder stehenbleiben, kann hier durch das Stöbern im Kasten selbst «angepackt» werden.
Mitten im Raum steht eine Installation, die sich mit Zuständen und Materialien auseinandersetzt. Dominik Neuwirth will damit seine literarische Erzählung «Das Sobjekt» thematisieren. Diese handelt von einer Zeit der Unterwerfung, in welcher es keine Unterschiede zwischen menschlich und nicht-menschlich oder Subjekt und Objekt gibt.
Die Bilder von Beat Streuli zeigen Fassaden, die Lebensräume der Sichtbarkeit entziehen. Sie wirken aber auch als Schnittstellen zwischen Innen und Aussen. Die Fotografien wurden in Phnom Penh, Cotonou, Zürich, Tanger, Istanbul und Hong Kong aufgenommen.
Im Eingangsbereich stellt Vera Kaspar Bildprotokolle von Barbara Ellmerer, Dominic Neuwirth und sich selbst aus. Sie dokumentieren die Erforschung von unsignierten Darstellungen diverser Künstler. Im Zentrum stehen Bilder im Zusammenhang mit dem Text «Trost der Philosopie» vom neoplatonischen Philosophen und römischen Gelehrten Boethius. Das Werk wurde in St. Gallen erstmalig ins Deutsche übersetzt. Es handelt von Boethius, der während seiner Gefangenschaft mit der personifizierten Philosophie redet, um seine Situation verständlicher und erträglicher zu machen.
Rest or Stay
Am Ende der schmalen Treppe befindet sich das Tiefparterre. Es besteht eine fast schon beklemmende Atmosphäre, die der dunkle Keller mit den abgedeckten Fenstern ausstrahlt. Die Stimmung passt perfekt zum Thema «Freiheit oder Gefangenschaft in Grossstädten». «Rest or Stay» von Marianne Halter und Mario Marchisella ist eine Fantasie dazu, was alles hinter den Mauern «abgehen» kann. Der Hellraumprojektor zeigt Bilder von scheinbar verschlossenen Häuserfassaden und Love Hotels, welche die beiden Künstler auf einer Japanreise aufgenommen haben. Während im Obergeschoss alles relativ abstrakt ist, oder mit antiken Schriften zu tun hat, können hier unten die verschiedenen Gefühle selbst erlebt werden. Wer selbst in Japan war oder in Grosstädten sensibel für die vielschichtigen «Vibes» ist, fühlt sich mitten im Geschehen und nicht nur daneben.
Der Rundgang ist ein Erlebnis für alle Sinne und hinterlässt seine Spuren. Auch wenn nachher mehr Fragen im Raum stehen, hat der Besucher eine klarere Sicht auf die Dinge.
Zoller, Sandro, “Freiheit oder Gefangenschaft – Eine Frage der Perspektive?” (11.04.2019), in: https://www.kreuzlinger-zeitung.ch/2019/04/11/freiheit-oder-gefangenschaft-eine-frage-der-perspektive/ , abgerufen am 16.04.2019.